2.23. Das Jesusgebet - eine urchristliche Form der Meditation

Wer das Wort „Meditation“ hört, denkt entweder an besinnliche Texte, die monoton vorgetragen werden oder an fernöstliche oder gar esoterische Praktiken, die manche fromme Christen für Teufelswerk halten. Das Jesusgebet ist nichts von beidem – weder Teufelswerk noch frommer Worterguss. Dabei ähnelt die Praxis des Jesusgebetes durchaus der Zen-Meditation. Doch es hat seinen Ursprung unabhängig von östlichen Religionen bei den Wüstenmönchen des 3. Jahrhunderts und ist durch und durch biblisch geprägt. Der Sinn ist, sich der Gegenwart Gottes immer mehr bewusst zu werden, ähnlich wie es schon der Apostel Paulus formuliert: „In dir leben wir, bewegen wir uns und sind wir.“ (Apg 17,28).

Die Wüstenmönche wirken auf den ersten Blick wie religiöse Abenteurer oder Aussteiger aus dem sich etablierenden Christentum. Sie waren entschiedene Gottsucher, vielleicht angetrieben von einer Sehnsucht, von der sie ahnten, dass nur Gott sie stillen kann. Und so lebten sie als Einsiedler in der ägyptischen Wüste oder auch im Raum Syrien – fernab von jeder Zivilisation und vor allem fern von allem, was sie von Gott ablenken könnte. Dort wollten sie gemäß dem biblischen Auftrag leben: „Betet ohne Unterlass.“ (Vgl. 1 Thess 5,17) Mit der Zeit entwickelte sich dort – wahrscheinliche unter Einfluss von ägyptischen Priesterkreisen oder Strömungen aus der griechischen Philosophie – eine Art mantrisches Gebet. Ein Bibelvers wurde – verbunden mit dem Atemfluss – immer wieder wiederholt, so dass es ins Unterbewusstsein eindringen konnte, bzw. vom Kopf ins Herz gelangt (siehe die Gebetsform der Ruminatio). Allmählich gewinnt der Bibelvers „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ Priorität. Das Jesus-Gebet entsteht. Dabei ist der Name „Jesus“ Programm. Denn „Jesus“ heißt auf Deutsch „Gott rettet“. Dieses kurze Stoßgebet ist also eine ursprüngliche Form christlicher Meditation und wird immer noch in der orthodoxen Kirche praktiziert.

In der Kirche Westeuropas ist es im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten. Die Suche nach Gott – oder besser die Sehnsucht, mit ihm eins zu sein – nahm gegenüber der Lehre über Gott eine geringere Bedeutung ein. Glaube wurde kopflastig. Doch beides gehört zusammen: Hirn und Herz – Also Theologie als Lehre von Gott und Spiritualität als sich bewegen lassen von der Liebe Gottes. Erst im 20. Jahrhundert hat man auch in der Westkirche dieses Gebet wiederentdeckt. In der Auseinandersetzung mit dem Zen-Buddhismus hat man die eigene christliche Gebets-Tradition wiederentdeckt.


Bartimäus – Herr, erbarme dich
Was der Gebetsruf „Herr Jesus Christus, erbarme dich meiner“ bewirkt, hat der blinde Bettler Bartimäus am eigenen Leib erfahren:

Sie [Jesus und seine Jünger] kamen nach Jericho. Als er mit seinen Jüngern und einer großen Menschenmenge Jericho wieder verließ, saß am Weg ein blinder Bettler, Bartimäus, der Sohn des Timäus. Sobald er hörte, dass es Jesus von Nazaret war, rief er laut: Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!
Viele befahlen ihm zu schweigen. Er aber schrie noch viel lauter: Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir! Jesus blieb stehen und sagte: Ruft ihn her! Sie riefen den Blinden und sagten zu ihm: Hab nur Mut, steh auf, er ruft dich. Da warf er seinen Mantel weg, sprang auf und lief auf Jesus zu.
Und Jesus fragte ihn: Was willst du, dass ich dir tue? Der Blinde antwortete: Rabbuni, ich möchte sehen können. Da sagte Jesus zu ihm: Geh! Dein Glaube hat dich gerettet. Im gleichen Augenblick konnte er sehen und er folgte Jesus auf seinem Weg nach.
(Mk 10. 46-52)


Unterbrechung:

Nimm dir wieder Zeit, den Bibeltext in Ruhe zu lesen und versuchen Sie, sich die Situation vorzustellen, wie in einem Film.

Welche Szenen sehe ich?
Welche Menschen? Was tun die Menschen? Was sagen diese?
Was geht den Menschen durch den Kopf? Wie fühlen sie sich?


Nun stell dir vor, du würdest selber in diesem Film mitspielen.

In welche Rolle möchte ich gerne mal hineinschlüpfen?
Wie fühle ich mich in dieser Rolle?
Welche Gedanken gehen mir durch den Kopf?

Schließlich komm – wenn du magst – mit Gott darüber ins Gespräch.



Bartimäus ist zwar blind, aber nicht taub. Er scheint schon viel von Jesus gehört zu haben. Und er scheint auch viel von ihm zu erwarten. „Sohn Davids, Jesus, hab Erbarmen mit mir!“ ruft er ihm aus seiner Bettlerhaltung entgegen. Doch er erwartet keine Almosen – keine achtlos dahingeworfene Münze, die vielleicht das Überleben bis zum nächsten Tag sichert. Bartimäus geht aufs Ganze. Obwohl die Leute ihn mundtot machen wollen, ruft er wieder aus vollem Hals: „Sohn Davids, hab Erbarmen mit mir!“ Und als Jesus signalisiert, dass er ihn hört, wirft er schließlich sogar seinen einzigen Schutz beiseite – seinen Mantel – und läuft auf Jesus zu. Dem Erbarmen Jesu vertraut er seine ganze Existenz an.

Herr, erbarme dich. Das beten wir auch im Gottesdienst. Oder im Jesus-Gebet[1]: „Herr, Jesus Christus, Sohn des allmächtigen Gottes, erbarme dich meiner.“

In der Antike war das „Herr erbarme ich“ oder „Kyrie eleison“ ein Huldigungsruf. Am Hof des Kaisers hat ihm das Volk zugejubelt. Vor allem, wenn er von einer Schlacht siegreicht zurückkam. Natürlich hat sich jeder erhofft, etwas von der Siegesbeute abzubekommen. Wenn wir heute im Gottesdienst „Herr, erbarme dich“ rufen, dann jubeln wir Jesus zu, der den Tod besiegt hat. Und auch wir hoffen, etwas von seiner Siegesbeute abzubekommen. Wir hoffen, dass Jesus Christus unser Leben letztendlich zum Guten wendet.

Für Bartimäus hat sich das erfüllt. Sehend hat er nun eine ganz neue Lebensperspektive. Doch statt sich häuslich einzurichten, folgt er Jesus auf seinem Weg. Allerdings ist dieser Weg kein Spazierweg. Jesus ist unterwegs nach Jerusalem. Er geht auf das Kreuz zu. Blickt seinem Tod ins Auge. Für uns ist das Kreuz allerdings inzwischen nicht nur Symbol für Leid, Grausamkeit und Tod. Seit Ostern ist es auch Symbol für das Leben, das Gott schenkt – jenseits von Leid und Tod. Durch Jesus Christus wird unser Leben zum Guten gewendet. Ihm dürfen wir uns anvertrauen.

Das „Jesus-Gebet“ ist eine gute Form, sich Jesus anzuvertrauen. Ohne viele Worte, wird einfach der Namen „Jesus“ (übersetzt: „Gott rettet“) zum Gebet. Im ständigen Wiederholen dieses Gebetswortes, verbunden mit dem Atemfluss, wächst das Vertrauen in die Gegenwart Gottes im eigenen Leben.


Wer diese uralte Form der christlichen Meditation erlernen will, findet Anregungen in Bildungshäuser und Klöstern[2] (Stichworte: „Jesus-Gebet“, „Herzens-Gebet“, „Ruhegebet“ „Kontemplatives Gebet“) oder auch im Rahmen eines Onlinekurses  und in weiterführender Literatur:

Anselm Grün, In die Stille finden – Mönchische Erfahrungen für den Alltag, Claudius-Verlag, München.

Franz Jalics, Kontemplative Exerzitien – Eine Einführung in die kontemplative Lebenshaltung und in das Jesusgebet, Echter-Verlag, Würzburg.

Emmanuel Jungclaussen, Unterweisung im Herzensgebet, EOS-Verlag
St. Ottilien.

Hrsg. Emmanuel Jungclausen, Aufrichtige Erzählungen eines russischen Pilgers, Herder-Verlag, Freiburg.

Thomas Keating, Das Gebet der Sammlung – Einführung und Begleitung des kontemplativen Gebetes, Vier-Türme-Verlag, Münsterschwarzach.

Peter Dyckerhoff, Ruhegebet, Verlag Katholisches Bibelwerk, Stuttgart





[1] GL Nr. 6,8
[2] www.exerzitien.info

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