3.8. Am Anfang stehe eine einschneidende Erfahrung

Auch die Bücher des Neuen Testamentes sind nicht aus der Luft gegriffen, sondern hatten einen Grund, warum sie geschrieben wurden. Doch zunächst eine kurze Begriffsklärung:

Traditionell werden die Erfahrungen des Volkes Israel mit Gott als „Altes Testament“ bezeichnet und die Berichte über Jesus und die jungen christlichen Gemeinden als „Neues Testament“. Dabei ist mit „alt“ nicht „veraltet“ gemeint. Auch das Alte Testament ist für Christen verbindlich. Schließlich ist es die heilige Schrift Jesu. Ohne das Alte Testament kann man das Neue Testament nicht verstehen. Christen, die ohne jenes auskommen wollten, würden ihre Wurzeln abschneiden. 
Um eine Wertung zu vermeiden, wählen manche Bibelwissenschaftler lieber die Bezeichnungen „Erstes“ und „Zweites Testament“. Doch so ganz wertfrei sind selbst diese nicht. Daher bleibe ich bei der gängigen Bezeichnung „Altes Testament“ (AT) und „Neues Testament“ (NT).

Der Grund, warum das Neue Testament entstanden ist, war die einschneidende Erfahrung der Auferstehung Jesu. Diese hat alles im Leben der Menschen verändert, die sich mit Jesus verbunden fühlten. Sie haben versucht, sich dieses unglaubliche Geschehen zu erklären. Deshalb haben sie in ihre heiligen Schriften (AT) geschaut. Und sie fanden Hinweise darauf, wie sie das Geschehene deuten konnten. Vor allem fanden sie eine Antwort auf die Frage, wer dieser Jesus war und welche Bedeutung er für sie hatte. sie kamen zu der Überzeugung: Der Mensch Jesus von Nazareth ist der erwartete Retter, der von Gott kommt. Im Rückblick erkannten sie die einzigartige Beziehung, in der Jesus mit Gott stand. Diese drückt sich aus in der Bezeichnung: Jesus ist Gottes Sohn. 

Den Anhängern Jesu ging es schließlich so, wie es in dem zum Sprichwort gewordenen Bibelvers heißt: „Wem das Herz voll ist, dem quillt der Mund über.“ (Lk, 6,45) Das, was sie mit Jesus erlebt hatten, hat sie so tief bewegt, das mussten sie einfach weitersagen. Und das wichtigste, was es da nach seinem Tod zu sagen gab war: „Jesus lebt!“

Natürlich fragten sie sich dann auch, wer dieser Jesus war. Sie erinnerten sich an das, was sie mit ihm gemeinsam erlebt haben, was er gesagt hatte, was er getan hat. Und nun – nach seiner Auferstehung – sahen sie alles, was vor seinem Tod geschehen war, in einem anderen Licht. Nun verstanden sie seine Botschaft und seine Sendung. Und das erzählen sie weiter.

Das eindrücklichste Glaubenszeugnis gibt wohl der Apostel Petrus in seiner Pfingstpredigt. Gerade erst haben die Jünger den Heiligen Geist – die Kraft Gottes – empfangen, können alle Leute sie in ihrer Muttersprache verstehen, auch diejenigen, die vereinzelt im Mittelmeerraum lebten und anlässlich eines Festes nach Jerusalem gepilgert waren. Doch die Juden aus Jerusalem dachten, die Jünger Jesu seien besoffen. Da spricht Petrus zu ihnen:

Ihr Juden und alle Bewohner von Jerusalem! Dies sollt ihr wissen, achtet auf meine Worte! Diese Männer sind nicht betrunken, wie ihr meint; es ist ja erst die dritte Stunde am Tag; sondern jetzt geschieht, was durch den Propheten Joël gesagt worden ist:
In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden prophetisch reden, eure jungen Männer werden Visionen haben und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen und sie werden prophetisch reden. Ich werde Wunder erscheinen lassen droben am Himmel und Zeichen unten auf der Erde: Blut und Feuer und qualmenden Rauch. Die Sonne wird sich in Finsternis verwandeln und der Mond in Blut, ehe der Tag des Herrn kommt, der große und herrliche Tag. Und es wird geschehen: Jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden.
Israeliten, hört diese Worte: Jesus, den Nazoräer, einen Mann, den Gott vor euch beglaubigt hat durch Machttaten, Wunder und Zeichen, die er durch ihn in eurer Mitte getan hat, wie ihr selbst wisst - ihn, der nach Gottes beschlossenem Willen und Vorauswissen hingegeben wurde, habt ihr durch die Hand von Gesetzlosen ans Kreuz geschlagen und umgebracht. Gott aber hat ihn von den Wehen des Todes befreit und auferweckt; denn es war unmöglich, dass er vom Tod festgehalten wurde.
David nämlich sagt über ihn: Ich hatte den Herrn beständig vor Augen. Denn er steht mir zur Rechten, dass ich nicht wanke. Darum freute sich mein Herz und frohlockte meine Zunge und auch mein Leib wird in Hoffnung wohnen; denn du gibst meine Seele nicht der Unterwelt preis, noch lässt du deinen Frommen die Verwesung schauen. Du hast mir die Wege zum Leben gezeigt, du wirst mich erfüllen mit Freude vor deinem Angesicht.
Brüder, ich darf freimütig zu euch über den Patriarchen David reden: Er starb und wurde begraben und sein Grabmal ist bei uns erhalten bis auf den heutigen Tag. Da er ein Prophet war und wusste, dass Gott ihm einen Eid geschworen hatte, einer von seinen Nachkommen werde auf seinem Thron sitzen, sagte er vorausschauend über die Auferstehung des Christus: Er gab ihn nicht der Unterwelt preis und sein Leib schaute die Verwesung nicht.
Diesen Jesus hat Gott auferweckt, dafür sind wir alle Zeugen. Zur Rechten Gottes erhöht, hat er vom Vater den verheißenen Heiligen Geist empfangen und ihn ausgegossen, wie ihr seht und hört.
Denn nicht David ist zum Himmel aufgestiegen; vielmehr sagt er selbst: Es sprach der Herr zu meinem Herrn: Setze dich mir zur Rechten und ich lege dir deine Feinde als Schemel unter die Füße.
Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Christus gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt.
   Apg 2, 14-36

Kurz zusammengefasst könnte man sagen: Die Predigt des Petrus ist alles andere als erbaulich. Er klagt die Menschen an, dass sie den Retter, auf den das Volk Israel seit der Blütezeit des Königs David gewartet hatte, selbst umgebracht haben. Doch es bleibt nicht bei der Anklage: Petrus bezeugt seinen Glauben, dass Gott Jesus von den Toten auferweckt hat. Er ist der Gesalbte Gottes – der Christus – und steht auf einer Stufe mit Gott selbst.

Die Menschen, die das hören, lassen sich von dieser unglaublichen Botschaft anstecken. Erste Gemeinschaften bilden sich, die im Geist Jesu leben. Gemeinsam feiern sie ihren Glauben: brechen miteinander das Brot, beten miteinander, singen Loblieder und bekennen ihren Glauben. Für diese Gottesdienste haben sie angefangen, Lieder, Gebete und Glaubensbekenntnisse aufzuschreiben. Auch einzelne Dinge, die Jesus gesagt und getan hat.

Der Apostel Paulus hat viele solcher Gemeinden im ganzen Mittelmeerraum gegründet – vor allem unter Nichtjuden. Eine Weile blieb er dort, dann zog er weiter, um mehr Menschen von Jesus Christus zu begeistern und neue Gemeinden zu gründen. Auch nach seiner Abreise blieb er für die jungen Gemeinden eine wichtige Autorität in Glaubensfragen. Per Brief blieb er mit ihnen in Kontakt. Anlass waren oft Missstände in der Gemeinde. Viele dieser Briefe sind uns erhalten und Bestandteil des Neuen Testamentes. Zum Beispiel die Briefe des Apostels Paulus an seine Gemeinden in Korinth, in Galatien, in Ephesus…

Später entstanden die Evangelien. Auch sie richten sich an eine ganz konkrete Gemeinde. Die Evangelisten sammeln, was sie von Jesus wissen; was vielleicht schon andere aufgeschrieben haben; wählen aus, was sie für den Gottesdienst, die Katechese und das Leben ihrer Gemeinde brauchen; sortieren es und bringen alles in einen Erzählzusammenhang. Dabei haben sie Ostern immer im Blick. Oder besser: Sie schreiben alles auf und haben dabei die Brille von Ostern auf der Nase. Mit diesem Durchblick sehen sie mehr und beschrieben das Leben Jesu aus der Hoffnungsperspektive.

Wenn man die Bibel verstehen will, muss man also immer berücksichtigen, dass konkrete Autoren für konkrete Adressaten geschrieben haben. Beide haben einen individuellen Hintergrund. Es macht einen Unterschied, ob der Autor und die Adressaten gebildet waren oder nicht, ob sie früher Juden waren oder Heiden, ob der Autor für eine Gemeinde schrieb, die das Judentum kannte oder nicht. Es kommt also immer darauf an, in welchem Zusammenhang etwas gesagt wird. Vor allem muss man im Blick haben, dass die Erzählungen keine Live-Reportagen sind, sondern immer schon die Deutung beinhalten, dass der Mensch Jesus von Nazareth der auferstandene Christus ist.

Gottes Wort im Menschen WortWenn nun Menschen aus einer konkreten Situation heraus für Menschen in einer konkreten Situation die Bücher der Bibel geschrieben haben, wie können wir dann vom Wort Gottes reden? Die Schriften der Bibel sind für den, der glaubt, mehr als nur antike Literatur. Die Bibel ist Gottes Wort im Menschen Wort. Wir glauben daran, dass Gottes Geist – seine Kraft, seine Inspiration – überall und zu allen Zeiten wirkt. Deshalb können wir auch davon ausgehen, dass die Autoren der Bibel und auch wir Leser heute von Gottes Geist inspiriert sind. Wir vertrauen darauf, dass die Schriften im Geist Gottes geschrieben sind und in seinem Sinn gelesen werden – vor allem dann, wenn dies in Gemeinschaft geschieht. Das Wort Gottes kommt also durch das Wirken des Heiligen Geistes in menschlichen Worten zum Ausdruck.

Die Bibel ist nicht, wie es zum Beispiel die Muslimen vom Koran glauben, von Gott direkt und wörtlich diktiert. Auch hat nicht der Heilige Geist in Gestalt einer Taube den Evangelisten auf der Schulter sitzend die Worte eingeflüstert. Das Christentum ist darum auch keine Buchreligion. Sie ist eine Offenbarungsreligion. Gott hat sich den Menschen offenbart. Das heißt, er hat sich ihnen zu erkennen gegeben. Oft haben sie erst in der Rückschau ihre Erfahrungen auf Gott hin deuten können. Diese haben sie weitererzählt und schließlich schriftlich festgehalten. Später wurden dann unterschiedlichste Schriften, die für die Glaubenden relevant blieben, zusammengestellt und zu einem Buch – zur Bibel – zusammengefasst.

Wenn wir heute die alten Schriften lesen, gibt Gott sich auch uns heute immer wieder neu zu erkennen. Er spricht durch die Bibel in unsere Zeit hinein. Die Heilige Schrift ist von Gott „inspiriert“ – beim Schreiben und beim Lesen. Das bedeutet: Gott spricht jeden persönlich an. Deshalb genügt es nicht, die Bibel nur wissenschaftliche zu deuten – so wichtig dies ist. Die Worte der Bibel bleiben bedeutungslos, wenn Christen sich nicht auch persönlich von ihnen ansprechen lassen.

Unterbrechung:
Wenn du magst, lies ab und zu einen kurzen Bibeltext und überlege, wo du dich angesprochen fühlst. 






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