5.12. „Seht, das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt“

Immer wieder höre ich, dass sich Menschen schwer tun mit manchen Aussagen und Gebeten während des Gottesdienstes. Oft liegt das daran, dass die Sprache in der Messfeier nicht gerade Umgangssprache ist, sondern eher blumig und seltsam klingt. Manchmal fällt es leichter, innerlich dabei zu bleiben, wenn man sich bewusst macht, dass Gebetssprache Poesie ist – die Sprache der Liebe. Denn im Gottesdienst begegnen sich ja zwei Liebende: Gott und Mensch.
Doch bei manchen Ausdrücken und Gebeten muss man schon etwas mehr in die Tiefe gehen und nach der Herkunft fragen. Sonst läuft man vor die Wand oder wendet sich ab. Die meisten Gebete im Gottesdienst sind in Anlehnung an Bibeltexte formuliert. An zwei Beispielen möchte ich in diesem und im folgenden Post versuchen, die Hintergründe zu erklären, so dass sie hoffentlich künftig keine Irritationen mehr hervorrufen.

Der Priester lädt die Gemeinde zur Kommunion ein, indem er das gewandelte Brot und den Kelch mit Wein hochhält und sagt: „Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt.“ Die Gemeinde antwortet: „Herr, ich bin nicht würdig, dass du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“

Ich kann gut verstehen, wenn sich jemand innerlich sträubt, rituell zu sagen „ich bin nicht würdig.“ Das klingt beim ersten Hören nach erzwungener Selbstdemütigung. Unverständlich ist den meisten auch der Ausdruck „Lamm Gottes“. Was ist damit gemeint und wie soll das gehen, dass ein kleines Tier die Sünde der Welt hinwegnimmt? Wer auf solche Fragen keine Antworten findet, den wird die ganze Feier wahrscheinlich befremden.

Beginnen wir mit dem „Lamm Gottes.“ Johannes der Täufer hat Jesus so genannt, als er ihn am Jordan sah:
"Am Tag darauf sah er Jesus auf sich zukommen und sagte: Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt! Er ist es, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der mir voraus ist, weil er vor mir war. Auch ich kannte ihn nicht; aber ich bin gekommen und taufe mit Wasser, damit er Israel offenbart wird.
Und Johannes bezeugte: Ich sah, dass der Geist vom Himmel herabkam wie eine Taube und auf ihm blieb. Auch ich kannte ihn nicht; aber er, der mich gesandt hat, mit Wasser zu taufen, er hat mir gesagt: Auf wen du den Geist herabkommen und auf ihm bleiben siehst, der ist es, der mit dem Heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist der Sohn Gottes.
Am Tag darauf stand Johannes wieder dort und zwei seiner Jünger standen bei ihm. Als Jesus vorüberging, richtete Johannes seinen Blick auf ihn und sagte: Seht, das Lamm Gottes! Die beiden Jünger hörten, was er sagte, und folgten Jesus." Joh 1, 29-37

Wie kommt Johannes der Täufer dazu, Jesus als Lamm zu bezeichnen und wie kann er als Lamm Sünde wegnehmen? Die Antwort gibt das Alte Testament. Denn ein Opferlamm und ein Sündenbock spielen in der Tradition des jüdischen Glaubens eine große Rolle.

Das Opferlamm
Das Paschalamm erinnert die Juden während des Paschafestes daran, dass die Israeliten während der Befreiung aus Ägypten vor dem Tod bewahrt wurden:
"Der HERR sprach zu Mose und Aaron im Land Ägypten: 
Dieser Monat soll die Reihe eurer Monate eröffnen, er soll euch als der Erste unter den Monaten des Jahres gelten. Sagt der ganzen Gemeinde Israel: Am Zehnten dieses Monats soll jeder ein Lamm für seine Familie holen, ein Lamm für jedes Haus. Ist die Hausgemeinschaft für ein Lamm zu klein, so nehme er es zusammen mit dem Nachbarn, der seinem Haus am nächsten wohnt, nach der Anzahl der Personen. Bei der Aufteilung des Lammes müsst ihr berücksichtigen, wie viel der Einzelne essen kann. Nur ein fehlerfreies, männliches, einjähriges Lamm darf es sein, das Junge eines Schafes oder einer Ziege müsst ihr nehmen. Ihr sollt es bis zum vierzehnten Tag dieses Monats aufbewahren. In der Abenddämmerung soll die ganze versammelte Gemeinde Israel es schlachten. Man nehme etwas von dem Blut und bestreiche damit die beiden Türpfosten und den Türsturz an den Häusern, in denen man es essen will. Noch in der gleichen Nacht soll man das Fleisch essen. Über dem Feuer gebraten und zusammen mit ungesäuertem Brot und Bitterkräutern soll man es essen. Nichts davon dürft ihr roh oder in Wasser gekocht essen, sondern es muss über dem Feuer gebraten sein: Kopf, Schenkel und Eingeweide. Ihr dürft nichts bis zum Morgen übrig lassen. Wenn aber am Morgen noch etwas übrig ist, dann verbrennt es im Feuer! So aber sollt ihr es essen: eure Hüften gegürtet, Schuhe an euren Füßen und euren Stab in eurer Hand. Esst es hastig! Es ist ein Pessach für den HERRN.
In dieser Nacht gehe ich durch das Land Ägypten und erschlage im Land Ägypten jede Erstgeburt bei Mensch und Vieh. Über alle Götter Ägyptens halte ich Gericht, ich, der HERR. Das Blut an den Häusern, in denen ihr wohnt, soll für euch ein Zeichen sein. Wenn ich das Blut sehe, werde ich an euch vorübergehen und das vernichtende Unheil wird euch nicht treffen, wenn ich das Land Ägypten schlage." Ex 12,1-13;

Bevor die Israeliten aus der Sklaverei befreit wurden, brauchte es der Erzählung nach zehn Plagen, damit der Pharao sie gehen ließ. Die letzte Plage bestand darin, dass alle Erstgeborenen der Ägypter zu Tode kamen. Ob diese zehn Plagen historische Tatsachen sind, mag dahin gestellt sein. Dass Menschen zu allen Zeiten von Naturgewalten und menschlicher Gewalt geplagt wurden und werden ist jedoch Realität. Die Frage ist, in welchen Sinnzusammenhang man diese Plagen stellt. Das Volk Israel erkennt in seiner Befreiungsgeschichte darin Zeichen, dass Gott auf der Seite der Schwachen steht und für ausgleichende Gerechtigkeit sorgt. Zu Beginn der Mose-Geschichte töteten die Ägypter alle männlichen Neugeborenen der Israeliten (vgl. Ex 1,22), weil sie Angst vor Überfremdung hatten. Am Ende der Sklavenzeit der Israeliten trifft es alle Erstgeborenen der Ägypter (vgl. Ex 11-12), weil der Pharao sie nicht in die Freiheit entlässt. Die Israeliten – die Schwächeren – werden vom Tod verschont. Das Blut eines geschlachteten Lammes am Türpfosten des Hauses war das Erkennungszeichen, damit der Tod an ihnen vorüberging. Das klingt für uns heute ein wenig archaisch. Vorläufer dieses Brauches findet man bei einem Frühlingsfest in der Kultur von Wanderhirten vor über 3000 Jahren. Durch das Blut des Lammes ging der Tod an den Israeliten vorüber. Daher der Name des späteren Paschafestes, das an die Befreiung aus Ägypten erinnert. „Pascha“ heißt vorüberschreiten oder verschonen. Der Pharao bekam weiche Knie und ließ das Volk Israel schließlich gehen. Trockenen Fußes gelangten sie durch das Rote Meer auf sicherem Weg in die Freiheit. Als Erinnerung an diese Befreiungstat Gottes und daran, dass durch das Blut des Lammes der Tod am Volk Israel vorüberging, sollten sie künftig jedes Jahr ein Fest feiern:

"Mose sagte zum Volk: Denkt an diesen Tag, an dem ihr aus Ägypten, dem Sklavenhaus, fortgezogen seid; denn mit starker Hand hat euch der HERR von dort herausgeführt. Nichts Gesäuertes soll man essen. 
Heute im Monat Abib seid ihr weggezogen.
Wenn dich der HERR in das Land der Kanaaniter, Hetiter, Amoriter, Hiwiter und Jebusiter geführt hat - er hat deinen Vätern mit einem Eid zugesichert, dir das Land zu geben, wo Milch und Honig fließen - , erfülle diesen Dienst in diesem Monat! Sieben Tage sollst du ungesäuerte Brote essen, am siebten Tag ist ein Fest für den HERRN."  (Ex 13,3-6)

Nach biblischer Überlieferung ist Jesus zur Zeit des Paschafestes gekreuzigt worden. Wie das Blut des Paschalammes am Türpfosten, so klebt nun Jesu Blut am Holz des Kreuzes. Doch obwohl Jesus am Kreuz gestorben ist, haben seine Freunde die Erfahrung gemacht, dass er lebt. Jesus ist durch den Tod hindurchgegangen. Der endgültige Tod ist an ihm vorübergeschritten. Für Christen ist Jesus daher das neue Paschalamm, wie es der Apostel Paulus seiner Gemeinde in Korinth schreibt: „…denn als unser Paschalamm ist Christus geopfert worden.“ (1 Kor 5,7). Durch seinen Tod, der so bestialisch war, dass der Vergleich mit dem Schlachten eines Tieres naheliegt, und durch Jesu Auferstehung glauben wir, dass auch wir vom ewigen Tod verschont werden. Durch die Taufe sind wir eingetreten in eine Schicksalsgemeinschaft mit Jesus. Mit ihm werden auch wir durch den Tod hindurchgehen ins Leben. Das Lamm Gottes ist also ein Bild für Hoffnung über den Tod hinaus.

Doch was ist damit gemeint, dass Jesus – das Lamm Gottes – die Sünde der Welt hinwegnimmt? Dazu zwei Überlegungen.

Sündenbockmentalität
Die erste: Im Laufe der Menschheitsgeschichte hat sich eine Sündenbockmentalität entwickelt. Der Sündenbock ist ein Mensch, dem man Schuld in die Schuhe schiebt, um selber besser da zu stehen. Unschuldige müssen ihren Kopf hinhalten und büßen. Das Verlangen nach Rache wird damit zwar zunächst befriedigt, doch die Spirale der Gewalt wird letztendlich nicht unterbrochen. Statt die Schuld nun einem anderen Menschen aufzuhalsen, wurde sie daher in religiösen Zeremonien auf ein Ersatzobjekt übertragen – zum Beispiel auf ein Tier, manchmal auch auf andere Gegenstände. Dieses Tier oder diesen Gegenstand, der nun mit dem Bösen beladen war, hat man dann aus der Gemeinschaft entfernt. Diese war somit rituell von der Schuld aus ihrer Mitte befreit.
Auch die Juden kannten an ihrem jährlichen Versöhnungstag den Brauch, einen Sündenbock im wahrsten Sinne des Wortes in die Wüste zu schicken:
"Aaron soll seine beiden Hände auf den Kopf des lebenden Bockes legen und über ihm alle Schuld der Israeliten und alle ihre Frevel mitsamt all ihrer Sünden bekennen. Nachdem er sie so auf den Kopf des Bockes geladen hat, soll er ihn durch einen bereitstehenden Mann in die Wüste schicken und der Bock soll alle ihre Sünden mit sich in die Einöde tragen." (Lev 16,21)

Weiterhin soll ein Jungstier geschlachtet und dessen Blut versprengt werden als Reinigungsritus. Auch das wirkt auf uns heute archaisch und befremdend. Aber man muss einfach berücksichtigen, dass diese Bräuche vor 3000 Jahren von Menschen praktiziert wurden, die als Wanderhirten lebten. Dem Blut sprach man göttliche Kräfte zu. Das rituelle Verbannen des Sündenbockes in die Wüste und die „Reinigung“ der Gemeinschaft durch das Blut eines Opfertieres war in der damaligen Kultur ein Versöhnungsritus mit Gott. Später wurde dieser Ritus eingebettet in die Opferriten im jüdischen Tempel.

Die ersten Christen haben nach der Auferstehungserfahrung versucht, ihre Erlebnisse mit Jesus zu verstehen. Sie versuchten die Frage zu beantworten: „Wozu ist das alles geschehen?“ Deshalb deuteten sie diese zunächst vor dem Hintergrund ihrer jüdischen Tradition. Der blutige Tod eines Unschuldigen am Kreuz erinnerte gläubig Juden natürlich an die traditionellen Opferriten. Da lag die Assoziation Jesu mit einem Opfertier nahe. Und man deutete Jesus als Sündenbock, der die Sünde von den Menschen nahm. Sein Blut deutete man als das Opferblut, das die Menschen mit Gott versöhnt – also die Sünde hinwegnimmt, damit der Mensch gut vor Gott dasteht.

Viele Begriffe im christlichen Sprachgebrauch sind also Anleihen an religiöse und kulturelle Traditionen aus tausenden von Jahren. Nun kann man zu Recht fragen, ob es noch sinnvoll ist, diese Begriffe zu verwenden, wenn Menschen sie nicht aus sich selbst heraus verstehen können, sondern erst nach umfangreichen Erklärungen. Andererseits symbolisieren diese alten Begriffe die Verbundenheit mit den Christen vor uns in einem Zeitraum von 2000 Jahren. Wir sind nicht nur jetzt Gemeinschaft im Glauben, sondern über die Zeiten hinaus.

Überwindung der Trennung und Befreiung von der Angst um sich selbst
Als zweites biete ich Ihnen an, wie ich es verstehe, wenn wir sagen, dass Jesus die Sünde der Welt hinweggenommen habe:
Zunächst die Frage: Was ist Sünde? Sünde ist kurz gesagt: Schuld vor Gott. Und was diese bewirkt, beschreibt das altnordische Verb sundr, von dem sich „Sünde“ herleiten. Es bedeutet „trennen“ oder „aufteilen“.[1] „Sünde“ bewirkt die Trennung oder Absonderung des Menschen von Gott. Wenn das Wesen Gottes die Liebe ist und der Mensch Abbild Gottes – also nach der Art Gottes –, dann pervertiert jede Lieblosigkeit die Berufung des Menschen zur Gottesebenbildlichkeit. Immer dann, wenn Menschen es an Liebe fehlen lassen, entfremden sie sich von Gott und damit sogar von sich selbst. Der Mensch sondert sich ab von Gott. In einem Wort gesprochen: Er sündigt.

In Jesus Christus jedoch kommt Gott den Menschen selbst entgegen. Er hält die Trennung einfach nicht aus. Deshalb wird Gott Mensch – begibt sich zu uns auf Augenhöhe. Vielleicht kann man das mit der zwischenmenschlichen Liebe vergleichen. In keiner Beziehung läuft es ja immer glatt. Manchmal herrscht sogar Sendepause. Doch wenn die Liebe groß ist, hält es mindestens einer der beiden nicht lange aus und macht wieder den ersten Schritt auf den anderen zu. Ähnlich ist es auch mit Gott. Er hält die Absonderung, die der Mensch verursacht, einfach nicht aus und überwindet die Trennung. Das Alte Testament ist voll von Beschreibungen, dass die Menschen sich von Gott abwenden, aber Gott ihnen immer wieder hinterherläuft – ja sogar umwirbt wie ein Bräutigam seine Braut. Schließlich kommt er in Jesus Christus selbst den Menschen entgegen, um die Trennung zu überwinden.

Doch inwiefern nimmt er durch seinen Tod am Kreuz die Sünde hinweg?
Die äußerste Trennung des Menschen von Gott wäre der endgültige Tod. Und vor dem Tod haben Menschen am meisten Angst. Die Angst um sich selbst drückt sich aus in der Angst, zu kurz zu kommen. Also in der Angst, dass einem die Lebensgrundlagen entzogen werden. Daraus entstehen zum Beispiel Neid, Missgunst, Geiz, Habsucht etc. Diese Haltungen begünstigen Lieblosigkeiten den Mitmenschen gegenüber. Und jede Lieblosigkeit trennt mich von meinen Mitmenschen. Gleichzeitig trennt sie mich aber auch von Gott, der die Liebe ist und auch von meiner eigenen Identität und Berufung, von der Art Gottes zu sein – Abbild der Liebe. Die Angst vor dem Tod ist es also letztendlich, die mich dazu bringt, zu sündigen. Das steckt ganz tief in mir drin und da komm ich allein nicht raus. Wenn ich jedoch darauf vertrauen kann, dass ich durch Jesu Tod und Auferstehung keine Angst zu haben brauche vor dem endgültigen Tod – also endgültig verloren zu sein – habe ich allen Grund, keine Angst haben zu müssen um mich selbst. Ich habe keinen Grund mehr für Neid, Missgunst, Geiz, Habsucht etc. Ich habe also auch keinen Grund mehr für Lieblosigkeit, die mich absondert. Insofern kann ich sagen: Jesus hat diese Absonderung – die Sünde – hinweggenommen.

Soweit meine Überlegungen in der Theorie. Hört sich doch einfach an, oder? Die Praxis sieht anders aus. Ich bin eben nur ein Mensch – mit allen Stärken und Schwächen, die dazugehören. Ein meiner Schwächen ist es, dass mir das völlige Vertrauen in Jesus oft schwer fällt. Da ich oft doch lieber auf mich selbst vertraue, werde ich bis an mein Lebensende immer wieder sündigen. Doch zum Glück kann ich immer wieder neu anfangen, indem ich mich neu auf Jesus Christus einlasse, dem Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünde der Welt. In der Kommunion zum Beispiel kann ich ihn an mich heranlassen, ihn in mir wirken lassen, so dass er mich wandelt zu dem Menschen, der ich von Gott her gedacht bin. Das ist zwar ein lebenslanger Prozess, aber einer, der einmal von Gott vollendet werden wird. Darauf will ich vertrauen. Denn wenn er der Menschheit in Jesus Christus entgegengekommen ist, dann wird er auch jedem einzelnen Menschen im Tod entgegenkommen. Ich brauche am letzten Ende keine Angst zu haben.

[1](vgl. deutsch (ab)sondern, heutiges skandinavisch sondre und schwedisch sönder „zerbrochen“) https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCnde, 31.7.2015

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